Der kuriose Fall des Nacktmulls
Der Heterocephalus glaber – ein kleines Nagetier, beheimatet in der Savanne Ostafrikas rund um Kenia, Äthiopien und Somalia. Er lebt ausschließlich unterirdisch in selbstgebauten, kilometerlangen, schmalen Tunnelgängen. Dort findet man ganze Kolonien von bis zu 300 äußerst sozialen, kommunikativen und fleißigen Nacktmullen.
Von seinem Erscheinungsbild eher hässlich, faltig und nahezu haarlos, beweist der Nacktmull nicht zu unterschätzende, geniale Qualitäten. Denn der Nacktmull ist der einzigartige Beweis, dass Langlebigkeit unter Säugetieren von Natur aus möglich ist.
Es ist ein Gesetz der Natur
Je größer eine Tierart, desto länger lebt sie. Betrachtet man zum Beispiel den Wal. Der faszinierende und allseits beliebte Meeresbewohner triumphiert gleichermaßen – größtes Säugetier der Welt plus nahezu unschlagbare Lebenserwartung. Ähnliches sieht man an Land. Der Elefant ist riesig und langlebig.
Interessanterweise ist der eben beschriebene Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und Größe wiederum innerhalb einer Tierart genau umgekehrt. Oft bemerkt man es bei Hunden. Die kleineren Individuen des treuesten Freunds des Menschen leben im Durchschnitt länger als ihre größeren Artgenossen.
Die Naturgesetze der Langlebigkeit zusammengefasst: Größere Tierarten leben länger, doch innerhalb einer Tierart leben wiederum die Kleineren länger.
Der Nacktmull pfeift auf die Naturgesetze!
Der Nacktmull ist in etwa so groß wie eine Maus. Hält diese lange durch, wird sie etwa 4 Jahre alt. Der Nacktmull dagegen übertrifft das Ganze um ein 8 bis10-Faches und kann ohne jegliche Anzeichen des Alterns über 30 Jahre alt werden. Wenn man dieses Phänomen in Relation zu uns Menschen stellt, berechnet sich unsere durchschnittliche Lebenserwartung nicht wie derzeit zu etwa 83, sondern zu weit über 664 Jahren. Klingt nach Science-Fiction, nicht wahr?
Nahezu unsterblich
Das Risiko eines Nacktmulls zu sterben, erhöht sich nicht etwa mit seinem Alter, wie es durch das Gompertz’sche Sterblichkeitsgesetz beschrieben ist. Der Nacktmull ist nahezu unsterblich. Er ist ein einzigartiges, nicht alterndes Säugetier.
Nur noch außergewöhnlicher ist wohl die Quallenart Turritopsis. Gerade mal so groß wie ein Fingernagel, entwickelt sich die kleine Qualle, wann immer sie eine Bedrohung erspürt, zurück in ihr Polypenstadium. So als würde der Schmetterling wieder zur Larve, der Erwachsene zum Kind.
Rückwärts altern – Science-Fiction 2.0.
Vom Nacktmull lernen
… was genau ihn nicht altern lässt.
Der Nacktmull ist gleich aus mehreren Gründen ein optimaler Modell-Organismus der Langlebigkeitsforschung. Erstens ist er ein Säugetier wie wir Menschen und zweitens sind die zwei am intensivsten erforschten Labortiere überhaupt, die Maus und die Ratte, nahe mit ihm verwandt. Noch dazu sind Maus und Ratte „normal kurzlebig“. Der perfekte Vergleich ist daher möglich.
Der perfekte Vergleich
… brach nun die nackte Wahrheit ans Licht.
Internationale Wissenschaftler zweier kooperierender Arbeitsgruppen aus Belgien und Frankreich untersuchten 2019 die „Metabolomische Signatur“ der extremen Langlebigkeit: Nacktmull vs. Maus.¹
Das heißt, sie verglichen die Zusammensetzung der im Blut der beiden Tierarten zirkulierende Stoffwechsel-Metaboliten. Noch dazu in verschiedenen Altersstufen der Tiere. Was die Wissenschaftler herausfanden, ist erstaunlich.
Das Geheimnis ist gelüftet: Nacktmulle zeichnen sich durch einen lebenslang konstant hohen Spermidin-Level in ihrem Blut aus! Bei Mäusen sah man demgegenüber die altersbedingte Verringerung der Konzentrationen an Spermidin und seiner Metaboliten, ähnlich wie beim Menschen bereits bekannt.²
Außerdem konnten Forscher zeigen, dass, wenn sie Zellen von Nacktmullen und Mäusen jeweils in Labor-Kulturen heranzüchteten, in Zellen des Nacktmulls wesentlich höhere Autophagie-Aktivität betrieben wird als in den Zellen von Mäusen.³
Was wir daraus lernen: Spermidin und die Autophagie – Elixiere der natürlichen Langlebigkeit.
¹ Viltard M, Durand S, Pérez-Lanzón M, et al. The metabolomic signature of extreme longevity: naked mole rats versus mice. Aging (Albany NY). 2019;11(14):4783-4800. doi:10.18632/aging.102116
² Pucciarelli S, Moreschini B, Micozzi D, et al. Spermidine and spermine are enriched in whole blood of nona/centenarians. Rejuvenation Res. 2012;15(6):590-595. doi:10.1089/rej.2012.1349
³ Rodriguez KA, Wywial E, Perez VI, et al. Walking the oxidative stress tightrope: a perspective from the naked mole-rat, the longest-living rodent. Curr Pharm Des. 2011;17(22):2290-2307. doi:10.2174/138161211797052457